Kommentare spielen heute im Alltag eine immer größere Rolle, aber Kommentar ist doch nicht gleich Kommentar.
Ja, das muss man klar unterscheiden. Wenn bei X oder auf Facebook Kommentar unter einem Post steht, ist das zwar ein Kommentar im Sinne von Social Media. Mit einem journalistischen Kommentar hat das aber nur so viel zu tun wie die berühmte Kuh mit dem Sonntag.
Warum?
Auf Social Media kann jeder seinen Senf zu allem und jedem geben. Das ist eine reine Meinungsäußerung. Ob die stimmt, ob die schlüssig ist, ob die herabwürdigend oder Hetze, irgendein kranker Erguss eines kranken Geistes ist – das alles ist hier möglich und bleibt meistens ohne persönliche Folgen. Denn nur selten wird hier angesichts der Flut ermittelt. Argumente und echte Fakten sind hier fast immer hinderlich, stehen sie doch der vereinfachenden Äußerung im Weg.
„Man darf alles sagen – aber nicht ohne Widerspruch“: Warum Meinungsfreiheit keine Einbahnstraße ist
Gleichzeitig beklagen doch viele, man dürfe heute nicht mehr seine Meinung sagen.
Ja, das Argument kennen wir auch aus Diskussionen mit Leserinnen und Lesern – übrigens bringen zumeist Männer das Argument. Und es begegnet uns auch im journalistischen Alltag. Im Gegensatz zu totalitären Staaten und autoritären Regimen wie etwa Russland oder China und selbst mittlerweile in den USA, gilt das für Deutschland und auch andere europäische Staaten nicht. Ich kann in Deutschland sehr frei meine Meinung äußern und selbst der rechtliche Rahmen, was denn beklagt werden kann, ist sehr weit gefasst.
Woher kommt denn dann der Eindruck?
Ich darf meine Meinung äußern, nur ich muss damit leben, dass mir jemand widerspricht. Das finden viele blöd, vor allem, weil sich der Ton nicht zuletzt während der Corona-Krise massiv verschärft hat. Gleichzeitig bewegen sich die Menschen zunehmend in digitalen Blasen, in denen viele der gleichen Meinung sind. Das ist das Ergebnis von Algorithmen, die zunächst Streit mit Reichweite belohnen und dann die Kanäle der Meinungsverwandten fluten. Das fühlt sich für den Kommentierenden gut an, weil man Teil von vielen ist und sich damit auf der richtigen Seite wähnt. Jeder Widerspruch wird da dann schnell als Angriff verstanden. Obendrein ist dies gepaart mit einem gezielt geschürten Misstrauen gegen alles, was „System“ genannt wird.
Systemmedien, Mainstream, Misstrauen – woher die Vorwürfe gegen klassische Medien kommen
Zeitungen oder Medienhäuser werden ja auch schnell als Systemmedien oder Mainstream-Medien bezeichnet, auch mit dem erklärten Ziel, diese zu diskreditieren.
Das stimmt und ist für Medienhäuser eine große Herausforderung. Denn in der Auseinandersetzung geht es oftmals nur um Behauptungen, die wenig mit Argumenten oder konkreten Anlässen unterfüttert sind. Behauptungen wie, „ihr kriegt doch vom Kanzleramt vorschrieben, was ihr zu schreiben habt“, sind einfach absurd. Ungeachtet dessen sind Zeitungen oder auch der Rundfunk immer leicht zu kritisieren. Bisweilen sind die Medien einfach nur der Überbringer einer Botschaft, die dem Leser, dem Hörer oder dem Zuschauer nicht passt, die er ungerecht, gemein oder überfordernd findet. Und dann richtet sich die Kritik gegen die Medien und die Politik.
Was können Zeitungen oder andere klassische Medien tun?
Unsere Aufgabe ist es, Dinge einzuordnen, Dingen, das Gewicht zu geben, die sie im Alltag verdient haben. Wichtiges im Alltag der Menschen wichtig und interessant zu machen, Unwichtiges auszusortieren oder in die Kuriosa-Ecke zu packen. Das heißt vor allem auch, nicht aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen – selbst wenn dieser Elefant, sprich beispielsweise die Skandalisierung eines Sachverhaltes mit Blick auf Klickzahlen im Netz, verlockend ist. Der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein hat einst die Losung für seine Mannschaft ausgegeben, die da lautete: „Sagen, was ist“. Das meint, das Augenscheinliche genauso zu beschreiben, wie auch den Dingen und Motiven dahinter auf den Grund zu gehen. Es meint nicht, „Sagen, wie man es gern hätte“.
Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus: Ein Blick zurück auf die Flüchtlingsberichterstattung
Kritiker beschreiben aber immer wieder, dass Berichterstattung tendenziös sei und sich eben nicht darauf beschränkt, zu sagen, was ist.
Die Kritik kenne ich genauso, wie ich sie ernst nehme und in Teilen teile. Seit den 90er-Jahren hat sich nicht zuletzt durch den Einfluss von Social Media und dem leichten Zugang zu Informationen im Netz eine Entwicklung gezeigt, wo sich Journalismus und Aktivismus in Teilen vermischen. Selbstkritisch müssen wir als Medien dies zum Beispiel im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung 2015/16 konstatieren. Viele Journalisten – ich schließe mich da nicht aus – wollten auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Und gerade für uns Deutsche bedeutete dies: Wir wollten offen und human daherkommen.

Frustration und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, treibt Menschen in die Wut. Diese richtet sich dann gegen die da oben. Und Medien werden vielfach als Teil dieses Systems gesehen. Foto: Fredrik von Erichsen/dpa
Warum halten Sie das für problematisch?
Ich komme zurück auf das „Sagen, was ist“. Ganz eng gemeint ist es der Versuch, die Wirklichkeit so wahrhaftig wie möglich darzustellen – unerschrocken, sachlich und aber auch unbeeinflusst von gesellschaftlichen oder politischen Zwängen. Und gleichzeitig auch unbeeinflusst von meiner persönlichen Meinung zum Sachverhalt. Dass wir nie gänzlich wertfrei sind, dessen sind sich Journalisten bewusst. Die eigene Meinung hat aber in der Zeitung oder auf der Webseite originär nur ausdrücklich einen Platz: Im Kommentar. Wir haben zudem noch das Format „Nachgehakt“, in dem wir kommentierend die Fakten einer vorhergehenden Berichterstattung noch einmal pointiert einordnen.
Warum machen Sie denn da so einen Unterschied?
Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Der Kommentar ist ein Meinungsartikel. Alle anderen Artikelformen, ob die Nachricht, das Interview oder die Reportage, sind Berichte, sprich, sie „Sagen, was ist“. Sie beschreiben und durch die Zusammenstellung der Fakten, helfen sie, Dinge zu verstehen. Der Kommentar hingegen drückt die individuelle Meinung und Sichtweise des Autors aus, die allerdings eben nicht einfach nur als Meinung formuliert wird…
Fakten, Argumente, Analyse: Was einen journalistischen Kommentar von Social-Media-Posts unterscheidet
Sondern?
Entscheidend ist, dass die Meinung fundiert mit Argumenten belegt ist und auf Fakten beruht.– und hier unterscheidet sich der journalistische Kommentar eben von dem gleichnamigen „Social-Media-Kommentar“. Ohne Argumente und Fakten wären es nur ungedeckte Behauptungen, Schmähungen, Attacken oder Polarisierungen – eben so wie bei vielen Kommentaren im Netz. Auch der Kommentar ist der Versuch, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Gleichzeitig bewertet er aber den Sachverhalt oder das Handeln von Menschen, Parteien, Unternehmen oder Organisationen.
Wie meinen Sie das?
Gefahr durch Algorithmen: Digitale Blasen verstärken einseitige Ansichten. Diskussionen und Meinungsvielfalt sind wichtiger denn je. Foto: Sebastian Gollnow
Lassen Sie es mit einem Bild erklären: Der Sachverhalt ist ein Stein, der Journalist umkreist diesen Stein, geht von allen Seiten nah heran und beschreibt die Zusammenhänge. Die Perspektive ist nah und rundherum. Herauskommt ein Bericht, so wie oben beschrieben. Der Kommentar betrachtet den gleichen Sachverhalt, nimmt aber dem recherchierten Wissen Abstand, sieht damit nicht nur den Stein, sondern auch den Baum dahinter und auch das drohende Unwetter am Horizont. Und so fügt der Kommentar mittels Analyse und Einordnung ein Bild zusammen, was sich für den schnellen Betrachter so nicht ergeben würde.
Und das ist dann so?
Na ja, es ist so, wie der Autor es sieht und einordnet, ein subjektiver Blick, der mit Fakten unterlegt ist. Ist es deshalb allein gültig? Das nicht. Dies ist auch der Grund, warum wir unseren Lesern regelmäßig auch gegensätzliche Kommentare bieten. Nicht, weil wir uns nicht entscheiden können, sondern weil wir eben unterschiedliche Perspektiven bieten wollen. Es ist kein „heute so und morgen so“, sondern das ernste Angebot an unsere Leserinnen und Leser, sich mit verschiedenen Argumenten auseinanderzusetzen, bestenfalls bis dahin, dass sie sich eine eigene Meinung zum Thema bilden können. Übrigens, dann ausgestattet mit guten Argumenten.
Klare Grenze gegen Extremismus: „Wir sind nicht neutral gegenüber Demokratiefeinden“
Kommt das so auch an?
Ja und nein, uns erreichen immer wieder Mails und Anrufe, in denen uns Parteilichkeit vorgeworfen wird. Das Schöne ist, mal sind wir zu schwarz, mal sind wir zu gelb, mal zu grün und mal zu rot. Was wir nicht sind: zu blau. Extremistische, menschenverachtende, demokratiefeindliche Botschaften, die im Deckmäntelchen der demokratischen Legitimation daherkommen, bewerten wir als das, was sie sind: extremistisch, menschenverachtend und demokratiefeindlich.
