Bremerhaven Demenz

Sie arbeiten nicht mit dem Hier und Jetzt: Demenz erfordert speziellen Umgang

Einen geliebten Menschen in ein Pflegeheim zu geben, fällt Angehörigen unglaublich schwer. Doch gerade für Demenzpatienten gibt es irgendwann oft keine andere Lösung mehr. Und die Krankheit stellt auch Pflegekräfte vor besondere Herausforderungen.

"Haus im Park" Einrichtung für Demenzkranke

In der Pflegeeinrichtung „Haus im Park“ in Bremerhaven leben rund 60 Menschen mit Demenz. Die jüngste Bewohnerin ist 44, die älteste 101 Jahre alt. Foto: Hartmann

An keinem Ort in der Stadt gehört Demenz so sehr zum Alltag wie im „Haus im Park“. In der Pflegeeinrichtung am Johann-Wichels-Weg leben rund 60 Menschen mit Demenz: „Die jüngste Bewohnerin ist 44, die Älteste wird 101“, sagt Stefan Herrmann, stellvertretender Einrichtungs- und Pflegedienstleiter. Deren Bedürfnisse sind ähnlich, unterscheiden sich aber auch - je nachdem, in welchem Alter und Demenz-Stadium sich die Bewohner befinden. „Anders als früher kommen die meisten erst zu uns, wenn zu Hause nichts mehr geht“ - und wenn die Angehörigen am Limit sind. Denn dem Umzug in eine Pflegeeinrichtung gehen oft dramatische Jahre voraus. „Für Angehörige ist es oft schwierig, den demenzkranken Menschen, der abhängig und unselbstständig ist, in fremde Hände zu geben“, weiß Herrmann. „Auch sie haben oft mit dem Demenz-Prozess zu kämpfen.“

Zuwendung ist dem Menschen mit Demenz enorm wichtig

Wenn das Hier und Jetzt beginnt, sich aufzulösen, Erinnerungen zu Fragmenten, zur Reise in fremde Welten werden, sind Menschen mit Demenz auf Zuwendung angewiesen. „Das Wichtigste für uns ist, sich Zeit zu nehmen und auf die Gefühle der Bewohner einzugehen“, sagt Herrmann. Mit dem Heute können Demente schlecht umgehen. Sie leben in ihrer eigenen Welt, wo die Gegenwart aus Erinnerungen besteht.

Das „Haus im Park“ setzt auf Biografie-Arbeit

„Wir arbeiten nicht mit dem Hier und Jetzt“, sagt Herrmann. Denn das Kurzzeitgedächtnis funktioniert bei Demenzkranken schon bald nicht mehr. „Erinnerungen aus früheren Jahren bleiben länger.“ Daher setzt das Team auf Biografie-Arbeit. „Wichtig ist, dass die Demenzkranken in ihrer eigenen Welt respektiert werden.“

Auf der emotionalen Schiene lassen sich Demenzkranke fast immer erreichen. Berührungen, Streicheln, sanfte Stimmlagen, das alles macht es leichter. Nachhaken, Widersprechen, Korrigieren - das kann eine explosive Atmosphäre schaffen. „Demenz erfordert einen speziellen Umgang. Das Pflegepersonal muss besonders auf die Anforderungen der Menschen mit Demenz reagieren, sehr geduldig und belastbar sein“, sagt Herrmann. Viele der rund 100 Mitarbeiter im „Haus im Park“ haben daher Zusatzausbildungen gemacht, etwa in „deeskalierender“ Betreuung.

„Demenzkranke brauchen Sicherheit“

Die Bewohner im „Haus im Park“ sollen so leben, wie sie es gerne wollen. Sie haben eigene Zimmer, den Tag verbringen sie aber - wenn sie möchten - in Gemeinschaft mit den anderen Bewohnern. „Demenzkranke brauchen Sicherheit“, sagt Herrmann. Deshalb werden die Bewohnerinnen und Bewohner im „Haus im Park“ in der Regel möglichst immer von denselben Pflegekräften betreut. Schwestern und Pfleger kennen die einzelnen Biografien der Bewohner. Das Lieblingsessen, Lieblingslieder oder die liebste Fernsehsendung sind notiert.

Die Musik ist oft ein Anker zum Festhalten

Wenn Zeitgefühl und Orientierung verloren gehen, Dinge, Menschen und Situationen verschleiert scheinen und die Realität sich Schritt für Schritt auflöst, brauchen alte und kranke Menschen etwas, das ihnen in diesem Prozess der Auflösung noch Halt bieten kann. „Musik ist so ein Anker“, sagt Herrmann. Etwas hat sich im Laufe der Jahre jedoch verändert: „Unsere Bewohner haben, weil sie aus unterschiedlichen Generationen stammen, völlig andere Vorlieben“, sagt Herrmann. Doch wenn es darum gehe, zu singen oder mitzusingen, sei fast jeder dabei. „An Lieder, die sie in der Kindheit geprägt haben, können sich die meisten noch erinnern.“

Demenzkranke kommen oft nicht zur Ruhe

Viele Demenzkranke haben eine sogenannte „Weg- oder Hinlauf-Tendenz“: Die Betroffenen kommen nicht zur Ruhe. Sie sind vom inneren Drang getrieben, ziellos umherzulaufen. Für Betroffene scheinen die Verpflichtungen und Verabredungen real. Also verlassen sie die Wohnung oder das Heim - mitunter kaum bekleidet. Unterwegs verlieren sie die Orientierung und finden oft nicht mehr heim. Ein Horrorszenario.

„Wir sind eine geschützte, geschlossene Einrichtung“, sagt Herrmann. Die Eingangstür ist verschlossen, lässt sich nur mit Code oder Schlüssel öffnen. Grundsätzlich sind solche freiheitsentziehenden Maßnahmen verboten, weil sie die Lebensqualität der Menschen unangemessen einschränken. „Daher ist bei jedem unserer mobilen Bewohner ein richterlicher Beschluss nötig“, sagt Herrmann.

„Es kann vorkommen, dass jemand im fremden Bett schläft“

Im Haus und im Garten, der mit einem erhöhten Zaun umschlossen ist, dagegen können sich die Bewohner völlig frei bewegen. „Es kann auch mal vorkommen, dass jemand in einem fremden Bett schläft“ - da sei man völlig entspannt.

In der Regel kommt es zu einer sogenannten Weglauf- oder Hinlauf-Tendenz bei Menschen, deren Demenz im fortgeschrittenen Stadium ist. Sie haben kein Gefühl mehr für die Zeit, teils leben sie gedanklich in der Vergangenheit.

„Es sind bestimmte Tageszeiten, wo es bei Betroffenen gehäuft zu einem Bewegungsdrang kommt“, erklärt der Neurologe Michael Lorrain. Er ist Vorsitzender des Vereins Alzheimer Forschung Initiative (AFI).

Im „Haus im Park“ etwa gibt es einen Bewohner, der zum Sonnenuntergang meint, nun sei Feierabend: Er möchte dann von seiner Arbeitsstelle im Fischereihafen nach Hause fahren. Es gebe jedoch eine sehr einfache Methode, die Demenzkranken im Heim zu halten, ist Herrmann überzeugt: „Beschäftigung.“ Wer beschäftigt sei, komme in der Regel nicht auf den Gedanken, noch einen Spaziergang machen oder in sein altes Zuhause zurückkehren zu wollen.

Vom Modell der Bushaltestelle nicht überzeugt

In einigen Einrichtungen für Demenzkranke steht mitten im Park eine Bushaltestelle. Im festen Glauben an die Möglichkeit der Heimfahrt warten die Patienten dort auf den nächsten Bus, um etwa nach Hause zu kommen. Von diesem Konzept ist man im „Haus im Park“ nicht überzeugt. „Die Bewohner warten, warten, warten, werden dabei möglicherweise unzufriedener. Das führt dann schnell zur nächsten Eskalationsstufe“, sagt Herrmann. „Wir versuchen lieber, die Bewohner, die meinen, unbedingt irgendwo hinzumüssen, in Gesprächen auf ein anderes Thema umzuleiten.“

für Demenzkranke steht mitten im Park eine Bushaltestell

In einigen Einrichtungen für Demenzkranke steht mitten im Park eine Bushaltestelle. Im festen Glauben an die Möglichkeit der Heimfahrt warten die Patienten dort auf den nächsten Bus, um etwa nach Hause zu kommen. Von diesem Konzept sind die Mitarbeiter im „Haus im Park“ aber nicht überzeugt. Foto: Karmann/dpa

Wo GPS-Chips zum Einsatz kommen

Viele Häuser, in denen die Eingangstüren nicht verschlossen sind, haben in den sie umgebenden Grünanlagen „Anziehungspunkte“ wie Aquarien oder Vogelvolieren geschaffen - in der Hoffnung, dass die Demenzkranken nach Verlassen des Hauses dorthin gehen. In anderen Heimen werden zudem Menschen, die eine „Lauftendenz“ haben, in den oberen Etagen der Häuser untergebracht. Die Gefahr, dass sie zum Hauseingang gelangten, sei so geringer.

Einige Einrichtungen arbeiten auch mit GPS-Chips. Der Chip kann in einem Armband versteckt sein, an einer Halskette oder am Gürtel getragen werden. Das Pflegepersonal erhält so ein Signal, wenn die Kranken den Eingang passieren und kann jederzeit prüfen, wo sich die Demenzkranken aufhalten. Allerdings ist die Ortung ein Eingriff in die Rechte des Menschen mit Demenz. So kommt die Möglichkeit nur dann infrage, wenn der oder die Betroffene damit einverstanden ist - oder ein Richter zustimmt. Denn es ist ein schmaler Grat: Wo hört der Schutzgedanke auf und wo fängt die Überwachung an?

Ein Notfallausweis hilft oft weiter

Für Angehörige, die Demenzkranke noch zu Hause pflegen, gibt es einen Tipp: Entscheidet sich ein Betroffener gegen so einen Chip, ist es gut, wenn er zumindest einen Notfallausweis in den Jacken und Taschen hat, für den Fall des Weglaufens. „Dieser Ausweis enthält neben Name und Adresse der Person und der Angehörigen auch eine Notfallrufnummer“, erklärt Neurologe Lorrain. So können andere die Angehörigen kontaktieren oder den Patienten selbst wieder sicher nach Hause bringen.

Zu Hause fühlen sollen sich die Bewohner auch im „Haus im Park“. Die Zimmer, so ist es gewünscht, sind ganz individuell eingerichtet - mit Möbeln oder Erinnerungsstücken aus der eigenen Wohnung. „Die Pflege darf dadurch allerdings nicht behindert werden“, sagt Herrmann. Und es darf keine Gefahr für die Bewohner entstehen. Auf einen Glastisch, auf den jemand stürzen und sich dann schwer verletzen kann, müssen die Bewohner zu Beispiel verzichten.

Balou kann schwierige Situationen entschärfen

Ein beliebter Gast im Pflegebereich ist Balou. Der zweijährige Golden Retriever ist zwar kein ausgebildeter Therapiehund, begleitet Hermann aber fast immer zur Arbeit. „Darauf reagieren die Bewohner sehr positiv“, sagt der Pflegedienstleiter, der gemeinsam mit dem Hund seine Runden im Haus dreht.

Golden Retriever „Balou"

Golden Retriever Balou ist ein wichtiger Gast für die Bewohnerinnen und Bewohner des „Hauses im Park". Foto: privat

„Wenn sie Balou sehen, freuen sich unsere Bewohner.“ Viele lieben es, den Rüden zu streicheln oder zu liebkosen. Auch wenn die Stimmung aufgeladen ist, kommt Balou manchmal zum Einsatz. „Alleine Balous Anwesenheit kann so manche Situation entschärfen.“ Wenn Balou einmal nicht mit dabei ist, fällt das auf: „Die Bewohner erinnern sich nicht an meinen oder Balous Namen. Aber sie merken, dass etwas fehlt.“

Kuschelroboter "Ole"

Kuschelroboter „Ole“ wird im Seniorenpflegeheim „Haus O’land“ in Bremen im Umgang mit Demenzkranken eingesetzt. Das Plüschtier reagiert auf Berührungen und dreht den Kopf in die Richtung, aus der eine Stimme kommt. Foto: Hecker/dpa

Roboter zum Kuscheln

Wird er gestreichelt, öffnet er seine großen, dunklen Augen. Er schlägt die langen schwarzen Wimpern auf und nieder und wackelt mit seinen Flossen. Aus seinem Bauch, in dem ein großer Akku liegt, kommen die Rufe einer Robbe. Ole ist ein Roboter. Eine 60 Zentimeter lange und 2,7 Kilo schwere Roboter-Robbe mit weißem Fell, in dem Sensoren sitzen. Ein Plüschtier, das auf Berührungen reagiert und den Kopf in die Richtung dreht, aus der eine Stimme kommt. „Ole ist eine hilfreiche Ergänzung, die den Bewohnern Freude bringt“, sagt Sabine Zinke, Leiterin des Hauses O’land in Bremen. Die Einrichtung für Demenzkranke macht gute Erfahrungen mit der in Japan entwickelten Robbe. „Ole“ bringe die Bewohner dazu, über ihre Gefühle zu sprechen, könne beruhigen und zufriedener machen - und im Gegensatz zu echten Tieren, etwa Hunden oder Katzen, gebe es keinen Patienten, der vor ihm Angst hat.

Ann-Kathrin Brocks

Projektredakteurin

Ann-Kathrin Brocks ist seit Oktober 2015 Projektredakteurin bei der Nordsee-Zeitung, wo sie auch volontiert hat. Zuvor hat sie an der Universität Siegen „Literary-, Cultural- & Media-Studies“ sowie „Visual Studies & Art History“ studiert.

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