Ich werde diesen klaren, direkten Blick nicht mehr los. Gehe immer wieder an jener grünen Drahtgeflechtbank vorbei und schaue, ob er dort noch sitzt - die olle Lammfellmütze über den Ohren, eingehaust in ein Iglu aus Klamottensammelsurium und Plastiktüten - nein, er ist fort. Vermutlich gewöhne ich mich nie daran, dass es mehr und mehr werden, die in unserer Stadt durch alle sozialen Systeme rutschen. Einer Stadt, deren Obdachlosen-Szene nie so öffentlich sichtbar war wie andernorts. „Weil es genügend Unterschlüpfe in leeren Häusern und Anlaufstellen gibt“, war stets die behördliche Auskunft. Das war mal. An diesem niesel-grauen, kalten November-Markttag lehnt die dunkle Gestalt unter kahlen Bäumen am Rand des Platzes. Ein paar Leute mit vollen Taschen gehen vorüber. Er spricht niemanden an. Bettelt nicht. Ich hole schnell paar Schritte ums Eck beim Bäcker heißen Kaffee und Schinkenbrötchen, geh zurück, frage, ob ich ihm das anbieten dürfe? Der Mann, geschätzt etwa 60, guckt hoch, erstaunt. Ich staune auch: Aus diesen Augen funkelt nichts Trübes, Resigniertes, Drogen-Vernebeltes. Sondern ein wacher Geist. Er bedankt sich in so gewählter Ausdrucksweise, als säße er beim Dinner. Ob er den Treffpunkt der Gisbu hinterm Bahnhof kenne, zum Aufwärmen, Waschen, auch Übernachten? Er nickt und erzählt, dass er dort war, „aber man sagte, es sei überfüllt.“ Ich muss schlucken. Weiß nicht weiter. Aber eines erkenne ich: Er strahlt eine Art innere Freiheit aus, etwas, das ihn sein So-Sein irgendwie ertragen lässt. Dieser Mensch hat sich, das wird mir schlagartig bewusst, hinter der vor Not starrenden Hülle sein Selbst bewahrt. Nennen wir‘s - Würde.