Brake

Auf der Flucht: „Mama ich will nicht sterben“

Als wieder einmal die Sirenen heulen, sie sich unter eine Treppe geflüchtet hat und der achtjährige Sohn sagt „Mama, ich will nicht sterben“, da ist es für Irina Harkava klar: Sie muss flüchten. Weg von den Raketenangriffen, weg aus Dnipro, weg aus der Ukraine. Inzwischen sind Mutter und Sohn angekommen in einer Wohnung in Friedrich-August-Hütte. Von Ellen Reim

Endlich angekommen: Mit ihrem Sohn Gleb wohnt Irina Harkava nun in Friedrich-August-Hütte.

Endlich angekommen: Mit ihrem Sohn Gleb wohnt Irina Harkava nun in Friedrich-August-Hütte. Foto: Reim

Irina Harkava ist 39 Jahre alt, ihr Sohn Gleb 8. Sie sind, wie so viele Flüchtlinge aus der Ukraine, allein nach Deutschland gekommen, ohne den Ehemann und Vater. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land derzeit nicht verlassen, sie sollen es verteidigen. „Mein Mann war nie in der Armee, er ist kein Soldat“, sagt Irina. Doch das sei egal. „Wenn ich tapfer wäre, wäre ich auch dort geblieben und würde kämpfen für die Ukraine. Aber ich muss an meinen Sohn denken“, sagt die russischsprachige Ukrainerin.

Sie brauchen Mut, haben aber auch keine andere Wahl

Das erfordert allerdings auch jede Menge Mut und Tapferkeit. „Dnipro wurde gleich zu Kriegsausbruch am 24. Februar beschossen, so wie Kiew und Charkow und andere Städte“, erzählt Irina Harkava auf Englisch. Morgens um 5 Uhr habe der Beschuss begonnen. „Mein Mann dachte erst, es wäre Feuerwerk.“

In der Millionenstadt Dnipro wohnt Irina Harkavas Familie im Zentrum, dort wo viele Behörden und Firmen ihren Sitz haben. Nach Tagen in der Wohnung will sie ihrem Sohn Spaß beim Ballspielen auf einem Schulhof gönnen. Als wieder die Sirenen heulten, schaffen die beiden es nicht bis nach Hause, sondern müssen unter einer Treppe Schutz suchen. Da habe der Sohn gesagt, dass er nicht sterben wolle, erinnert sich Irina. Auch sie weint, als sie später mehrere Stunden in einem Schutzkeller sitzt. Ein Rucksack mit Wasser, Lebensmitteln, Papieren und den Medikamenten für Gleb, der an Epilepsie leidet, ist von da an der ständige Begleiter der Familie auf dem Weg von der Wohnung in den Schutzraum und zurück. Ständiger Alarm, Raketenbeschuss, Angst: Nach einigen Tagen beschließt Irina Harkava, dass es besser sei, zu fliehen.

Die Millionenstadt Dnipro vor dem Krieg und während des Krieges.

Nicht viele Möglichkeiten

Als Transportmittel kommt für sie nur die Bahn infrage. „Mit dem Auto oder dem Bus war es zu gefährlich, die Züge waren am sichersten.“ Im Gepäck: Essen, Medikamente, Smartphone, Ladegerät – und einige wenige Kleidungsstücke. „Wir konnten nur zwei kleine Taschen, einen Rucksack und meine Handtasche mit allen Dokumenten mitnehmen.“

Während der langen Zugfahrt war es schwierig, einen Platz zum Schlafen zu finden. Gleb gelang es aber.

Während der langen Zugfahrt war es schwierig, einen Platz zum Schlafen zu finden. Gleb gelang es aber. Foto: privat

Im Zug drängen sich Frauen und Kinder, längst nicht alle finden einen Sitzplatz. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die Wagen nicht beleuchtet, Telefone dürfen nicht mehr benutzt werden, die Fahrgäste sollen nur flüstern – „zur Sicherheit“, meint Irina Harkava. Schnell sind die Toiletten unbenutzbar. Zum Schlafen strecken sich die Passagiere auf den Sitzen und auf dem Boden aus. „Ich habe überhaupt nicht geschlafen, aber Gleb schaffte es“, erzählt die Mutter.

22 Stunden dauert die Fahrt ins gut 900 Kilometer entfernte Lwiw, vom Osten in den Western der Ukraine. Nach einer kurzen Pause, versorgt von Freiwilligen mit Essen, Getränken, Kleidung, setzen Irina Harkava und ihr Sohn die Reise fort Richtung polnische Grenze. „Wir sind mit dem Bus gefahren.“ Auch das hat bedrohliche Momente: „Plötzlich flogen da Hubschrauber direkt neben uns. Das war so beängstigend“, sagt Irina Harkava.

Stundenlang steht der Bus an der Grenze, wartet auf Abfertigung. Aussteigen darf so lange niemand. Am Abend des 4. März erreichen Mutter und Sohn die Grenze, am 5. März sind sie nach zehn weiteren Fahrtstunden in Krakau. „Keine Sirenen, keine Hubschrauber, keine Soldaten. Es war wie ein Wunder“, sagt Irina Harkava. Freiwillige kümmern sich um die verängstigten ukrainischen Flüchtlinge.

Das rührt Irina Harkava, aber sie will nicht in Polen bleiben. Ihr nächstes Ziel ist Berlin. „Eine Freundin meiner Mutter lebt da, bei ihr konnten wir unterkommen“, berichtet sie. Allerdings stellt sich das Arrangement als schwierig heraus, denn die Freundin ist betagt, die Wohnung winzig, und Gleb sehr aufgeregt.

Die Flüchtlinge sind noch nicht angekommen. Irina Harkava fragt sich durch zur Erstanlaufstelle in der Oranienburger Straße 285 in Reinickendorf, wartet einen ganzen Tag, ohne überhaupt ins Haus zu kommen. Sie stellt sich am nächsten Morgen schon um 5 Uhr an und schafft es nach 9 Stunden tatsächlich, Papiere für eine Weiterreise zu bekommen. Nächstes Ziel: Bad Fallingbostel. Dort ist ein Ankunftszentrum für Flüchtlinge.

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Unsicherheit begleitet sie

Irina Haklava ist froh, dass sie dort mit Gleb in einem Viererzimmer unterkommt. „VIP-Unterkunft“ nennt sie das. „Andere waren zu acht“, sagt sie. Alles Nötige ist da, doch die Angst verlässt die Ukrainerin nicht. „Dort ist ein Truppenübungsplatz, und jedes Mal, wenn wir Schüsse gehört haben, fühlten wir uns wieder in die Ukraine zurückversetzt.“

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So ist sie nicht unzufrieden, als die Reise einige Tage später weitergeht Richtung Norden. Der Bus bringt Irina Harkava und Gleb nach Brake. Von dem Ort haben sie noch nicht gehört, und schon gar nicht von Langwarden. Dort sollen sie unterkommen. „Bei sehr netten Leuten“, sagt die Geflüchtete. Aber Langwarden sei so winzig und abgelegen, dass sie Angst gehabt habe, nicht rechtzeitig Hilfe zu bekommen, falls ihr Sohn einen epileptischen Anfall habe. Einen Blick auf die Nordsee wirft sie vom Deich aus – „sehr windig“ –, dann macht sie sich auf der Suche nach einer Unterkunft in der Stadt.

Und die findet sie auch mit der Hilfe des Refugiums Wesermarsch. „Zeliha ist wunderbar“, sagt sie über Zeliha Aykanat, die sich der beiden annimmt. Und ihnen sagt, dass sie nicht ein Zimmer im Hostel in Ellwürden beziehen, sondern eine eigene Wohnung in FAH. Nicht groß, nicht luxuriös mit Möbelspenden ausgestattet, zwei Zimmer, Küche, Bad, ein winziger Balkon: „Das ist wie ein Palast.“ Es sei toll, wie gut man sich in Deutschland um die Flüchtlinge kümmere, sagt Irina Harkava. „Ich bin dankbar.“

Einige Tage verbrachten Mutter und Sohn im Ankunftszentrum für ukrainische Flüchtlinge in Bad Fallingbostel. Inzwischen werden dort wegen Überfüllung keine Neuankömmlinge mehr aufgenommen.

Einige Tage verbrachten Mutter und Sohn im Ankunftszentrum für ukrainische Flüchtlinge in Bad Fallingbostel. Inzwischen werden dort wegen Überfüllung keine Neuankömmlinge mehr aufgenommen. Foto: privat

Beim Rathaus hat sie sich und ihren Sohn schon angemeldet. „Jetzt sind wir auch hier echte Menschen“, sagt sie. Sie wünscht sich, dass ihr Leben nun wieder ruhiger wird. Doch so einfach ist das nicht: „Ich weine jede Nacht“, erzählt sie, wenn sie an ihren Mann und ihre Eltern in Dnipro denkt. Wann sie sie wiedersehen kann, das ist ungewiss. „Mein Mann vermisst uns, aber er will nicht, dass wir zurückkommen. Das wäre zu gefährlich. Wer weiß schon, was Putin plant“, sagt sie. Kontakt hält sie per Smartphone. „Die Deutschen sind so gut und helfen uns so viel. Wir haben sogar kostenlos eine SIM-Karte bekommen“, freut sich die 39-Jährige. Sie hantiert häufig mit zwei Handys: eins mit ukrainischer Karte, eins mit deutscher.

Irina Harkava will nun schnell Deutsch lernen. Und sie wäre froh, wenn Gleb bald hier zur Schule ginge. „Er hat davor Angst“, sagt sie. So nimmt er bisher ausschließlich am Online-Unterricht an seiner ukrainischen Schule teil. „Das ist auch gut, wegen des Austauschs“, urteilt die Mutter. Aber Kontakte mit Gleichaltrigen vor Ort könne das nicht ersetzen.

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Ellen Reim
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