Zeven

Wenn die Gleichung nicht aufzugehen scheint

Dieser Tage las ich in einer namhaften deutschen Wochenzeitung einen Beitrag aus der Rubrik Psychologie. Das Aufmacherfoto hatte mein Interesse geweckt, denn üblicherweise überblättere ich diesen Teil der Ausgabe. Die Aufnahme zeigt den lachenden Willy Brandt. In der Annahme, ein Kapitel Zeitgeschichte vor mir liegen zu haben, stieg ich in den Text ein.

Der Autor geht der Frage nach, was es war, das Willy Brand Anfang der 1970er zum Idol machte? Ich zählte eben acht Jahre und habe nur eine schemenhafte Erinnerung an den SPD-Kanzler, der die Sozialdemokraten im Herbst 1972 zu einem phänomenalen Wahlsieg führte. Und von der Verehrung, die ihm damals Millionen Deutsche entgegengebracht haben, war in meinem familiären Umfeld nichts zu spüren.

Also Willy Brandt sticht aus der Riege der Kanzler heraus, weil er, so steht es geschrieben, bei den Menschen im Land Emotionen zu wecken imstande war. Innige Zuneigung bei den einen und tiefe Abneigung bei den anderen. Brandt sei im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachfolgern ein „charismatischer Politiker“ gewesen.

Doch was macht einen „charismatischen Politiker“ aus? Er oder sie ist ein begnadeter Rhetoriker/eine begnadete Rhetorikerin. Er oder sie weckt bei den Zuhörern Gefühle, schweißt das Publikum zusammen, verfügt über ein großes Maß an sozialer Intelligenz und macht aus Interessierten Anhänger. Doch die Verhältnisse sind es, die den Charismatiker sichtbar machen. Als Nährboden dienen Krisen und Unzufriedenheit.

Bei Brandt war es die Sehnsucht nach einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel nach der bleiernen Adenauerzeit. Bei Barack Obama der Wunsch nach einem umfassenden Kurswechsel in der US-amerikanischen Innen- und Außenpolitik. Bei Donald Trump ist es, so lese ich, die Angst vor dem kulturellen und ökonomischen Niedergang. Auch Adolf Hitler erschien in einer Krisenzeit auf der politischen Bühne. Millionen Deutsche erhoben ihn zum Heilsbringer.

Und warum schreibe ich diese Zeilen? Da im laufenden Bundestagswahlkampf bislang niemand auszumachen ist, der als Charismatiker oder als Charismatikerin in Erscheinung tritt, kann das Land nicht in einer Krise stecken.

Thorsten Kratzmann

Reporter

Thorsten Kratzmann stammt aus Zeven, hat in Göttingen und Hamburg Geschichte, Ethnologie und Politik studiert und ist seit 1994 bei der Zevener Zeitung beschäftigt.

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