Karla Mombeck kann es sich nicht vorstellen. Sie will es auch gar nicht. „Es ist nahezu unglaublich: Sie werden von den Nazis zu Hause abgeholt und im KZ ermordet“, sagt sie. So erging es dem jüdischen Ehepaar Jacob und seiner Frau Tony Wolff im Jahr 1942. Ihnen gehörte das Haus an der Osterstader Straße 21 in Sandstedt. Die Nazis brachten Jacob Wolff ins KZ Theresienstadt, wo er am 22. Dezember 1943 ermordet wurde. Seine Frau wurde in Auschwitz ermordet, Todesdatum unbekannt.
Das Haus der Familie Wolff wurde 1862 gebaut
Heute betreibt Mombeck ihre Rechtsanwaltskanzlei in dem ehemaligen Haus der Familie Wolff an der Osterstader Straße 21. Seit fast 20 Jahren erinnert sie mit dem Frauenkreis der Kirche an die ehemals vier jüdischen Familien, die von den Nazis aus Sandstedt vertrieben und zum Teil ermordet wurden. Dass sie das Haus vor ein paar Jahren gekauft hat, war aber Zufall, wie sie betont. „Ich habe für meine Kanzlei ein zentral gelegenes Haus gesucht“, sagt sie. Die Osterstader Straße 21 stand zum Verkauf. Mombeck griff zu.

Die Anwältin Karla Mombeck hat heute ihre Kanzlei in dem Haus in der Osterstader Straße 21. Foto: Jan Iven
Das Haus war 1862 von den Vorfahren von Jacob Wolff errichtet worden. 80 Jahre lang war es Wohnhaus, Schlachterei und Verkaufsgeschäft. Hinten gibt es bis heute einen Anbau, der früher als Stall gedient hatte.
Der Frauenkreis hatte in der Vergangenheit zu den vier jüdischen Familien recherchiert. Die Ergebnisse wurden 2006 von Pastor Dietrich Diederichs-Gottschalk und seiner Frau Felicitas in einem Aufsatz mit dem Titel „Ich hätt‘ auch Jude sein können!“ veröffentlicht. Darin berichten mehrere ältere Sandstedter von ihren Erinnerungen an die Juden im Ort, die sie vor ihrer Vertreibung noch persönlich gekannt hatten.

Historische Premiere am 26. August 2004: Die beiden Stolpersteine an der Osterstader Straße 21 in Sandstedt waren die ersten, die der Künstler Gunter Demnig jemals in einem Dorf verlegt hat. Foto: Privat
Nach allem, was über die Eheleute Tony (Jahrgang 1885) und Jacob Wolff (Jahrgang 1872) bekannt ist, wurde ihr Haus 1938 von den Nazis gestohlen und in einem Zwangsverfahren verkauft. Zwei Jahre später zogen sie zu Verwandten nach Wunstorf bei Hannover. Am 23. Juli 1942 wurden sie ins KZ Theresienstadt verschleppt.
Einige Sandstedter erinnerten sich an die Familie Wolff. „Der Herr Wolff, der hatte ein Opelauto, so einen grünen“, berichtet ein Bewohner in dem Aufsatz von Pastor Dietrich Diederichs-Gottschalk. Jacob Wolff mochte nicht gern in der Stadt fahren. „Ich hatte auch schon einen Führerschein und da habe ich ihn oft nach Bremen zum Schlachthof gefahren“, so der Sandstedter. „Die Frau war so ein bisschen vornehmer, so aus der Stadt.“
Ein anderer berichtet: „Wolffs hatten hier die kleine Weide gepachtet. Sie hatten zwei Kinder.“ Alle trafen sich bei der jüdischen Familie Gottschalck. „Dann ging mein Vater auch hin und sie haben sich als Nachbarn unterhalten.“
Die Anfeindungen durch einige Leute hätten im Dritten Reich angefangen. Bis dahin „waren das ganz nette und von allen anerkannte Leute. Aber einige Parteigenossen haben sich ganz schäbig verhalten“. Mit einem Heuwagen soll das Haus der Familie von Nazis gerammt worden sein. „Die haben das Fenster mit dem Mittelbaum durchstoßen, sind damit unter das Bett gegangen und haben das Bett hochgewuppt“, erzählt ein Sandstedter. „Können Sie sich vorstellen, was der Mann für Angst hatte? Das waren Sandstedter Jungs.“
„Nachher ging es den Wolffs ganz schlecht“, erzählt einer. Von der Vertreibung der Juden haben die Zeitzeugen, die in den 1930er Jahren alle noch jung waren, nach eigenen Angaben nicht wirklich etwas mitbekommen. „Die haben alles stehen und liegen gelassen. Was sie eben konnten, haben sie noch verkauft“, erzählt einer, der die Zusammenhänge erst später verstand.

Grete Wolff und Martha Allmers am Weserstrand in Sandstedt um 1930. Foto: Egon Meisterknecht
Konkretere Erinnerungen hatten die alten Sandstädter vor allem an die Kinder der Familie, mit denen sie damals befreundet waren. „Grete war ein bildhübsches Mädchen, sehr schlank, groß und hatte einen ganz aparten Bubikopf“, erzählt ein Sandstedter, der sich auch an den Bruder Hans Wolff erinnert. „Der war auch sehr aktiv hier im Dorf. Der hat den Sportverein mit gegründet.“
Kehrte Hans Wolff als britischer Soldat zurück nach Sandstedt?
Im Gegensatz zu den ermordeten Eltern konnten die beiden Kinder noch rechtzeitig nach England fliehen. Tony und Jacob Wolff haben es nicht mehr geschafft, aus gesundheitlichen Gründen, wie man sich erzählte. Später soll Hans Wolff einmal als britischer Soldat zurück nach Sandstedt zu Besuch gekommen sein, doch bestätigt ist das nicht. Pastor Diederichs-Gottschalk schrieb dazu: „Es ist wohl ein intensives Gefühl des geduldeten Unrechts vorhanden, wenn gemutmaßt wird, dass Hans mit den Alliierten sozusagen als Rächer zurückkehrte, wenn auch als gnädiger.“ Inzwischen sind auch Grete, Jahrgang 1909, und Hans Wolff, Jahrgang 1913, verstorben.
Erinnerung an Familie Wolff bei „Kirche auf dem Rad“
2004 hatte es eine Ausstellung zum jüdischen Leben in der Sandstedter St.-Johannis-Kirche gegeben. In diesem Rahmen hatte der Künstler Gunter Demnig zwei Stolperstraße in Gedenken an Tony und Jacob Wolff an der Osterstader Straße 21 verlegt. Anfang Juli nun hat Karla Mombeck Informationstafeln zu den jüdischen Familien bei der Aktion „Kirche auf dem Rad“ vor deren ehemaligen Häusern in Sandstedt aufgestellt.

Der Künstler Gunter Demnig verlegt am 26. August 2004 die beiden Stolpersteine an der Osterstader Straße 21 in Sandstedt in Gedenken an die ehemaligen Bewohner Jacob Wolff und Tony Wolff. Die beiden Juden wurden 1942 von den Nazis deportiert und später im KZ ermordet. Foto: Privat
Außer der Familie Wolff an der Oststader Straße 21 lebten weitere Juden bis zu ihrer Vertreibung durch die Nazis in Sandstedt: Familie Gottschalck an der Offenwarder Straße 3, Familie Goldmann in der Osterstader Straße 23 und Familie Goldmann an der Marktstraße 3. Die NORDSEE-ZEITUNG wird in weiteren Teilen über sie berichten.
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