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Psychotherapeut Jörg Berger zeigt Wege aus der Erschöpfung auf

Viele Menschen fühlen sich dauerhaft müde, erschöpft und antriebslos. Tipps wie Ausdauersport und Entspannungsübungen überfordern etliche. Der Psychologe Jörg Berger empfiehlt die radikale Entrümpelung aller Lebensbereiche.

Eine Frau liegt lesend auf einer Wiese in einer Parkanlage. Immer mehr Menschen fühlen sich dauerhaft müde, erschöpft und antriebslos. Tipps wie „jeden Tag Yoga“ oder „achtsamer leben“ überfordern viele nur, sagt der Psychologe Jörg Berger.

Eine Frau liegt lesend auf einer Wiese in einer Parkanlage. Immer mehr Menschen fühlen sich dauerhaft müde, erschöpft und antriebslos. Tipps wie „jeden Tag Yoga“ oder „achtsamer leben“ überfordern viele nur, sagt der Psychologe Jörg Berger. Foto: Schulze/epd

Erschöpfung gilt inzwischen als Volkskrankheit. Gegen Alltagsstress sowie berufliche und familiäre Belastungen werden viele Entspannungs-Techniken angeboten, sind etliche Ratgeber erschienen. Doch man darf erschöpften Menschen nichts anbieten, „was auf ihr Pensum noch obendrauf kommt“, sagt der Heidelberger Psychotherapeut Jörg Berger dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Ausdauersport oder Entspannungsübungen können bei Erschöpfung hervorragend helfen. Aber das hilft erschöpften Menschen oft nicht. Wo sollen sie das in ihrem ohnehin vollen, erschöpften Leben noch unterkriegen?“

Erschöpfung äußere sich etwa dadurch, dass man dünnhäutig werde, dass „uns bestimmte Ereignisse, die uns früher nichts ausgemacht haben, nahe gehen und mehr emotionale Energie kosten“, erklärt Berger: „Das ist ein Teufelskreis.“

Die jüngsten Krisen haben seelischen Spuren hinterlassen

Wer sich oft matt, schlapp oder chronisch müde fühlt, ist nicht allein: Viele Deutsche seien erschöpft und antriebslos, heißt es in der Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der Krankenkasse Pronova BKK, für die im Januar und Februar 2023 insgesamt 150 Psychiaterinnen und Psychiater sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten befragt wurden. Die Krisen der vergangenen drei Jahre hätten sich massiv auf das Seelenleben der Deutschen ausgewirkt, aus zwei Corona-Jahren seien viele Menschen nicht gestärkt hervorgegangen.

Die häufigste Diagnose lautete laut Studie im Jahr 2022 „Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit“, 84 Prozent der Befragten stellten dies bei ihren Patientinnen und Patienten fest. 2020 wurde dies nur von 39 Prozent diagnostiziert. Auch Traurigkeit (77 Prozent) habe gegenüber 2020 um 31 Prozentpunkte zugenommen. Neue Patienten und Patientinnen suchten vor allem aufgrund von Traurigkeit (93 Prozent) und Müdigkeit (92 Prozent) psychologische Hilfe.

Zwar habe jede Generation ihre eigenen Herausforderungen, räumt Berger ein. Aber die höheren Anforderungen an die Menschen heute seien ganz real, etwa in der Schule und im Studium - „oder wenn am Arbeitsplatz ältere Kollegen erzählen, wie es vor 30 Jahren war. Das ist ein himmelweiter Unterschied“, fügt der Psychologe hinzu. Qualitätssicherung, Dokumentation und Effizienzsteigerung sorgten für mehr Druck in der Arbeitswelt.

Bei schweren psychischen Belastungen brauche es externe Hilfe

„Vielleicht wissen Sie noch nicht, was Sie brauchen, um sich wieder kraftvoll zu fühlen. Doch Sie wissen, was Sie auf keinen Fall brauchen: eine weitere Anstrengung“, schreibt er in seinem Buch „Die Anti-Erschöpfungsstrategie“. Man könne auch „ohne Disziplin“ aus der Erschöpfung herausfinden - wenn es keine körperlichen Ursachen für die Beschwerden gebe. Und wer schwer psychisch belastet sei, brauche Hilfe von außen.

In seiner Anti-Erschöpfungsstrategie empfiehlt er vor allem den „Weg des Weglassens“: Man müsse nicht alles mitmachen, was einen auslaugt. Eine Schlüsselfrage sei: „Tut mir das wirklich gut? Man kann sich auch fragen: Muss ich das alles erreichen, wissen, können oder haben?“ Eine Entrümpelung der Lebensbereiche schaffe Freiräume. Indem man seine Belastungen erkenne und abwerfe, könne man zu den Pausen finden, „zu denen man bisher nie gekommen ist.“

Beispielsweise im Bereich der Beziehungen solle man sich an den eigenen zentralen Bedürfnissen orientieren: „Wer sind die Menschen, die mir guttun, welche kosten mich Energie?“ Man könne auch Nein sagen und sich zu einem anstrengenden Menschen etwas mehr Abstand erlauben. Bei digitalen Aktivitäten lohne es sich ebenfalls, zu überlegen, was man weglassen könne: „Das digitale Leben kommt ja zu unserem analogen Leben hinzu, das wir auch noch führen wollen und müssen.“ Dies könne zur nervlichen Überreizung führen.

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„Ausdauersport oder Entspannungsübungen können bei Erschöpfung hervorragend helfen. Aber das hilft erschöpften Menschen oft nicht. Wo sollen sie das in ihrem ohnehin vollen, erschöpften Leben noch unterkriegen?“

Jörg Berger, Psychologe

„Wir leben in einer Zeit, in der uns die Zeit abhandenkommt“, schreibt der Journalist Timo Reuter in seinem Buch „Warten. Eine verlernte Kunst“. Viele moderne Versprechen hätten sich in ihr Gegenteil verkehrt. „Das betrifft am Ende auch unser Verhältnis zur Zeit. Statt mehr davon scheinen wir weniger zu haben. Und statt selbstbestimmt über unsere Zeit zu verfügen, rennen wir Terminen und Erledigungen hinterher“, schreibt der 1984 geborene Autor. Am Ende komme man trotzdem oft nicht schneller ans Ziel, dafür aber gestresster.

Zwar sei die Gesellschaft so, wie sie sei, räumt Berger ein. Es sei aber ein dramatischer Unterschied, wenn Menschen die Freiheitsgrade und Spielräume erkennen würden, die sie hätten: „Diese können sie nutzen und ihr Leben in einer Weise umgestalten, dass es ihnen und ihren wirklichen Bedürfnissen entspricht.“ (epd/bal)

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