Wer hierzulande die Rechnung in Bar zahlt, rundet den zu zahlenden Betrag häufig auf und quittiert das gegenüber der Kellnerin oder dem Kellner mit einem „Stimmt so“ oder „Der Rest ist für Sie“. Oder man lässt sich weniger Geld zurückgeben. Das ist auch heute noch durchaus üblich, inzwischen hat sich mit Blick auf das Trinkgeld aber auch einiges geändert. War Trinkgeld früher nur in Restaurants oder bei Dienstleistungen wie Friseur, Fußpflege oder Taxifahrt üblich, so wird man heute auch an Orten aufgefordert, ein „Tip“ zu geben, an denen das bislang nicht üblich war.
In einer Luxuskonditorei am Kurfürstendamm in Berlin zum Beispiel sind die knallig blau unterlegten Optionen auf dem Touch-Display „7 %“, „10 %“ und „20 %“. Daneben gibt es Felder für „Freie Eingabe“ und „Kein Trinkgeld“. Am hippen Hamburger-Stand, nicht weit entfernt, kommuniziert das Kartengerät nur auf Englisch: „0 %“, „10 %“, „15 %“, „20 %“, „25 %“. 25 Prozent? Beim bloß über die Theke gereichten Double Cheeseburger für 9,50 Euro sind das satte 2,38 Euro.
In den USA sind höhere Tips durchaus üblich
In den USA ist so etwas nicht unüblich. Dort ist es so, dass viele Restaurants ihren Angestellten weniger als den Mindestlohn zahlen, weil sie davon ausgehen, dass Trinkgeld-Einnahmen die Differenz wettmachen. Den Trend zu viel höheren Beträgen beim sogenannten Tippen („Tipflation“) in den Vereinigten Staaten führen US-Forscher unter anderem auf Corona zurück. Demnach zeigten sich Verbraucher in der Anfangszeit der Pandemie generöser, um Lieferdienste, Restaurants und andere hart getroffene Unternehmen zu unterstützen. Das verselbstständigte sich.
Doch warum gibt es auch in Deutschland Veränderungen in der Trinkgeldkultur? Wieso wird man in einigen Geschäften um ein Tip gebeten, wenn es eigentlich Selbstbedienung ist?
Wenn Bezahlende per Touchscreen Trinkgeld geben sollen, fühlen sich in Deutschland viele geradezu genötigt, eine hohe Summe zu geben. Wirtschaftswissenschaftler wie Christian Traxler von der Berliner Hertie School nennen das „Nudging“ (englisch für „anstupsen“).
Das Verhalten der Kunden werde gelenkt, gar manipuliert, sagt der Verhaltensökonom.
„Es wird oft nicht nur kommuniziert, dass ein Trinkgeld erwartet wird, sondern auch, in welchem Rahmen es als angemessen angesehen würde.“ Wenn programmierte Werte aber hoch sind (für viele vielleicht sogar unverschämt hoch), fallen zwar einzelne Tips tendenziell höher aus, gleichzeitig aber sinke die Zahl der Leute, die überhaupt Trinkgeld geben. Ein Drahtseilakt, da Kunden angestupst, aber nicht verprellt werden sollen.
In Deutschland wird häufig noch Bar gezahlt
Wirtschaftswissenschaftler Sascha Hoffmann von der Hochschule Fresenius in Hamburg sagt dagegen, der technische Kniff, beim Bezahlvorgang am Kartenlesegerät an die Gabe eines Trinkgelds zu erinnern, sei für Servicekräfte und Gastronomen extrem hilfreich. Hoffmann hat zu Trinkgeldhöhen geforscht. Er weiß, dass Deutschland im Vergleich nach wie vor ein Bargeld-Land ist, doch der Anteil an Karten- und Smartphone-Bezahlvorgängen wachse.
„Studien zeigen, dass bei Kartenzahlung im Großen und Ganzen weniger Trinkgeld gegeben wird“, sagt Hoffmann. „Das wirkt sich unmittelbar negativ auf die Verdienstmöglichkeiten von Mitarbeitenden in der Gastronomie und anderen Dienstleistungsberufen aus. Die Stundensätze sind dort ohnehin nicht besonders hoch und die Angestellten sind besonders auf Trinkgelder als zusätzliche Einkommensquelle angewiesen.“ Falle das Tip weg, werden die Branchen laut Hoffmann womöglich unattraktiver, was den Arbeitskräftemangel in Serviceberufen weiter verschärfen könne.
Für manche Kunden war es schon immer Stress, vor den Augen einer Servicekraft und gegebenenfalls weiterer Gäste eine Trinkgeldhöhe auszurechnen. Neben Kopfrechenproblemen kämen soziale Normen ins Spiel, da die meisten nicht als knauserig wahrgenommen werden wollten.
So werden Kunden zu höheren Zahlungen verleitet
Die vermeintliche Hilfe der Kartenlesesysteme, die nun auch in Branchen zum Zuge kommen, in denen Trinkgeldgeben bislang unüblich war, könne problematisch sein, betont Hoffmann. „Insgesamt ist die Gefahr groß, dass Kunden durch die Vorgabe von Trinkgeldhöhen zu einem Verhalten verleitet werden, das sie gar nicht wollen. Heißt: Sie sehen die Vorgaben in der akuten Entscheidungssituation zwar vielleicht als entlastend an, ärgern sich aber im Nachhinein, dass sie zu viel Trinkgeld gegeben haben.“
Wenn statt beispielsweise 5, 10 und 15 Prozent gleich 10, 15 und 20 Prozent als Optionen im Raum stehen, könne über den aus der Psychologie bekannten „Hang zur Mitte“ eine überhöhte Trinkgeldgabe ausgelöst werden. Auch der Decoy Effect (Köder-Effekt) könne zuschlagen. Wird eine Trinkgeldhöhe absichtlich absurd hoch angesetzt, dann wirken die anderen Vorschläge, die eigentlich ebenfalls hoch sind, angemessen.
Dark Patterns (manipulative Designgestaltungen) nutzen diese Psycho-Effekte aus und können Konsumenten täuschen. Suggestive Designs sind sonst etwa im Online-Marketing verbreitet, wenn versucht wird, die Zustimmung von Website-Besuchern für das Setzen von Marketing-Cookies einzuholen. Die meisten Tip-Probleme rühren aber wohl von der sozialen Norm her, dass über Geld und damit auch die Höhe des Trinkgelds nicht offen gesprochen wird. (dpa/oer)

Das Kartelesegerät bietet mehrere Optionen für das Trinkgeld. Solche Geräte sind zunehmend auch in Deutschland im Einsatz. Für Kunden ein zweischneidiges Schwert, sagen Fachleute.Tholl/dpa Foto: Gregor Tholl