Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind Schätzungen zufolge an einer Demenz erkrankt, mehr als die Hälfte davon leidet an Alzheimer. Wer einen Alzheimer-Erkrankten in der Familie hat, wird mit vielen Fragen gleichzeitig konfrontiert: medizinischen, pflegerischen, psychologischen und sozialrechtlichen. Aspekte, die nicht nur fordern, sondern häufig auch überfordern.
„Angehörige kommen irgendwann an ihre Grenzen“
Je stärker die Krankheit fortschreitet, desto schwerer fällt es Betroffenen, ihren Alltag zu bewältigen. Oft übernehmen Angehörige von Demenzerkrankten diese Aufgaben. „Sie sind ständig gefordert, 24 Stunden am Tag, sieben Tagen in der Woche“, berichtet Gabriele Knabe, gelernte Krankenschwester, Pflegeberaterin und Mitbegründerin des Senioren- und Pflegestützpunktes beim Landkreis Cuxhaven. „Wenn dann noch herausforderndes, schwieriges Verhalten dazukommt, kommen Angehörige an ihre Grenzen.“

Wenn wir den ambulanten Pflegesektor stärken, um Pflegefachkräfte effektiver einzusetzen, sind Demential Care Manager ein Teil dieses Systems.
Doch der Weg vom Problem hin zu Diagnose und Hilfsangeboten ist oft immer noch weit. „Gerade anfangs gibt es auch bei Partnern oft noch die Scham, darüber zu sprechen, Demenz ist immer noch ein Tabuthema“, berichtet Knabe. Gerade Partner würden oft erst sehr spät Beratungsangebote in Anspruch nehmen. Dabei seien es die Erkrankten meist selbst, die ihre Erkrankung am frühesten bemerken würden. „Dann“, so Knabe, „beginnt dieses Vertuschen, das Nicht-wahrhaben-Wollen.“
Enorme Herausforderungen in der täglichen Pflege
Dennoch spielen neurodegenerative Erkrankungen, zu denen neben Demenzen wie Alzheimer auch Parkinson und ALS gehören, in den Pflegestützpunkten in Bremerhaven und im Landkreis Cuxhaven eine große Rolle. „Demenzen sorgen für die größten pflegerischen Herausforderungen, weil sich diese Erkrankungen weniger gut organisieren lassen als rein körperliche Erkrankungen“, sagt Knabe.
Ein häusliches Versorgungskonzept kann einer Studie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) zufolge das Leben für Demenz-Kranke und ihre Angehörigen erleichtern. Kern des Konzeptes sind speziell geschulte Pflegekräfte, die Betroffene und Angehörige zu Hause aufsuchen und beraten, erklärt Dr. Marcus Neitzert, Sprecher am DZNE in Bonn.
„Dementia Care Management“ zur Unterstützung
Im Mittelpunkt der Studie stand die Erprobung eines bundesweit einmaligen Versorgungskonzepts - des „Dementia Care Managements“: Dabei untersuchten Hausärzte aus Mecklenburg-Vorpommern die Gedächtnisleistung bei Patienten ab dem Alter von 70 Jahren. Lag bei dieser Untersuchung der Hinweis auf eine Demenzerkrankung vor, konnten die Patienten an der Studie teilnehmen. Speziell geschulte Studienschwestern besuchten Teilnehmer zu Hause und erfassten systematisch deren Situation und Bedürfnisse. Auf dieser Grundlage wurde ein Plan zur Verbesserung der Versorgung erstellt und in Abstimmung mit dem behandelnden Hausarzt umgesetzt.
Die Studienschwestern standen den Studienteilnehmern und Angehörigen bis zu einem Jahr als Beraterinnen zur Seite. Eine Vergleichsgruppe erhielt diese Hilfe nicht. Nach einem Jahr erfolgte bei allen Studienteilnehmern eine Nachuntersuchung mit erneuter Erfassung der Lebens- und Versorgungssituation. „Die Ergebnisse der ‚DelpHi-MV‘-Studie sind richtungsweisend“, sagt Neitzert. „Sie zeigen neue Ansätze, wie Menschen mit Demenz und deren Angehörige unterstützt werden können.“
Fast 5.000 Beratungskontakte in 2022 beim Pflegestützpunkt
Knabe und Marita Fischer vom Pflegestützpunkt Bremerhaven kennen das Konzept. „Es ist auf jeden Fall sehr sinnvoll“, sagt Fischer, „je mehr Menschen als Multiplikatoren zu diesem Thema unterwegs sind, desto besser ist das.“
Die spezielle Fortbildung zum „Dementia Care Manager“ basiere auf der Qualifikation eines Pflegeberaters (Case and Care Manager), erklärt Knabe. Drei solche Pflegeberaterinnen gibt es derzeit beim Pflegestützpunkt Bremerhaven, zwei sind es beim Landkreis Cuxhaven, wobei der Landkreis gerade eine dritte Stelle ausgeschrieben hat.

Demential Care Management ist sehr sinnvoll. Je mehr Menschen als Multiplikatoren zu diesem Thema unterwegs sind, desto besser ist das.
Der Beratungsbedarf ist groß. Vom kurzen telefonischen Erstgespräch bis zur intensiven Pflegefallanalyse und -beratung zählten die beiden Pflegeberaterinnen des Landkreises Cuxhaven im vergangenen Jahr fast 5..000 Beratungskontakte. Neben der kassenunabhängigen Beratung in den Pflegestützpunkten beschäftigt auch die AOK Pflegeberater; bei privat Versicherten ist die Compass Pflegeberatung zuständig. Andere Krankenkassen verweisen an die kommunalen Pflegestützpunkte.
Ambulanter Versorgungssektor der Pflege soll gestärkt werden
Knabe ist sicher, dass die Pflegeberatung künftig noch eine viel größere Rolle spielen wird. Nach Einschätzung des Pflegestützpunktes Cuxhaven ist es sinnvoll, Kümmerer vor Ort zu installieren. „Wir brauchen ein Case Management in den einzelnen Kommunen, um einen niedrigschwelligen Zugang zu Pflegeberatungsangeboten zu bekommen“, sagt Knabe.
Sie ist überzeugt davon, dass dann noch viel mehr Menschen davon Gebrauch machen würden. Und auch sollen: „Wir müssen den ambulanten Versorgungssektor unbedingt stärken.“
Als Grund nennt Knabe den ressourcenschonenden Einsatz von Pflegefachkräften: „Fachkräfte werden im stationären Bereich viel stärker gebunden, als es im ambulanten Bereich der Fall ist. Das heißt: Fachkräfte können ambulant viel mehr Pflegebedürftige versorgen als stationär.“ Auch deshalb sei es sinnvoll, Menschen so lange wie möglich zu Hause zu versorgen. „Das entspricht auch dem Wunsch der Pflegebedürftigen - egal ob mit Demenz oder anderen Erkrankungen.“
„Es braucht ein Dorf, um einen Demenzkranken zu versorgen“
Mit Pflegeberatern, Pflegediensten, Tagespflegeeinrichtungen, anderen Dienstleistern und Angehörigen ist es aus Sicht von Pflegeberaterin Gabriele Knabe aber nicht getan, wenn Demenz-Erkrankte lange ambulant versorgt werden sollen: „Es ist ganz wichtig, dass wir auch ein tragfähiges soziales Netz haben.“ Was sie damit meint? „Früher hieß es: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen; genauso braucht es ein ganzes Dorf, um einen Demenzkranken zu versorgen.“ Nachbarn, die einkaufen, den Müll rausbringen, Freunde, die sich Zeit nehmen. „Sie sollen ja keine Pflege leisten, sondern einfach ein bisschen unterstützen.“
Im Rahmen der Pflegekonferenz im Landkreis Cuxhaven haben Pflegeeinrichtungen nach Auskunft von Claudia Lange berichtet, dass Menschen mit Demenzerkrankungen in stationären Einrichtungen landen, die dort noch gar nicht sein müssten. Andere Menschen, bei denen die Pflege zu Hause wirklich nicht mehr möglich sei, bekämen unter Umständen keinen Platz, so die Fachgebietsleiterin beim Landkreis weiter. „Für uns kann das nur heißen, dass wir ambulante Pflegeangebote stärken müssen.“
Serie Diagnose Demenz
Diagnose Demenz: Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Demenz, und täglich kommen mehrere hundert hinzu. Doch was ist Demenz überhaupt? Welche Formen der Demenz gibt es? Welche Hilfsmittel und Selbsthilfeangebote gibt es? Und mit welchen Strategien bleibt man lange fit? - Wir haben mit Fachleuten gesprochen.Nächster Teil: Was geht in den Menschen vor, wenn sie begreifen, was mit ihnen los ist?