Wenn es um eine Künstlerin, einen Künstler ging, den Jürgen Wesseler gut fand, kannte er kein Pardon. Der Vermessungsingenieur, der nie Kunstgeschichte studiert hat, sich aber besser auskannte als die meisten Profis mit Hochschulabschluss, konnte einen schon mal in Grund und Boden reden. So ist es mir jedenfalls ergangen bei einer unserer ersten Begegnungen, irgendwann in den 80er Jahren. Wesseler zeigte damals Raimund Girke, einen der konsequentesten ungegenständlichen Maler der Nachkriegszeit. Ich war noch Studentin und konnte mit dem Künstler, der sich den Farben Weiß, Grau und Blau verschrieben hatte, wenig anfangen. Doch das ließ Wesseler, von 1987 bis 2012 Vorsitzender des Kunstvereins, nicht gelten.
Ein unermüdlicher Streiter für die Kunst
Ähnliche Erfahrungen mit dem Kunst-Sturkopf teilen viele Bremerhavener. Jeder, der sich nur ansatzweise für Kunst interessierte, erlebte, wie Wesseler unermüdlich für die Kunst stritt - manchmal noch nachts in der Kneipe. Um sein Gegenüber zu überzeugen, konnte es geschehen, dass er die Kunsthalle noch einmal aufschloss, damit seine Argumente direkt vor den Werken noch mehr Wirkung erzeugten.
Wesseler wollte, so brachte es Thomas Deecke, der Gründungsdirektor der Weserburg, einmal auf den Punkt, „liebgewordene überkommene Muster des Denkens stören“. Den Satz hätte der „Verrückte da oben aus Bremerhaven“, wie der Frankfurter Museumsmann Jean Christophe Ammann Wesseler nannte, unterschrieben. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Publikum nicht in dem Maße lernfähig ist, wie immer behauptet wird“, beschrieb Wesseler seine Haltung. „Ich wende mich dagegen, den Leuten alles mundfertig anzubieten.“
Kleines Ladenlokal wurde berühmt
Diese Unbeirrtheit machte Wesselers Stärke aus. Und natürlich seine Spürnase. Mit diesen beiden Eigenschaften schaffte er Erstaunliches. Sein Kabinett für aktuelle Kunst, das unscheinbare kleine Ladenlokal, wurde im Laufe der Jahrzehnte zum Mythos, nicht nur bundesweit bekannt, sondern auch in der New Yorker und Pariser Kunstszene.
Mit dem Kunstverein war Wesseler, am 1. März 1938 in Bremerhaven geboren, schon früh in Berührung gekommen. Er erinnerte sich: „Das war 1943, ich war fünf Jahre alt. Mein Vater nahm mich mit zu einer Ausstellung und kaufte sogar ein Bild. Ich war mit seiner Wahl gar nicht einverstanden.“
Seine eigene Wahl traf er später als Vorsitzender des Kunstvereins wohlüberlegt. „Ich wollte immer in Themenblöcken, quasi in Museumsräumen, sammeln. Die meisten Worpsweder Künstler etwa sind unter meiner Leitung angeschafft worden.“
Noch deutlicher wurde seine Handschrift im Kabinett für aktuelle Kunst, das mittlerweile so berühmt ist, dass mehrere Ausstellungen - unter anderem in der Bremer Kunsthalle, in der Weserburg und im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, sich mit der Galerie beschäftigten. Werke, die zuerst in Bremerhaven ausgestellt wurden, befinden sich mittlerweile unter anderem in der Sammlung des Museums of Modern Art (Moma) in New York.
Was die Künstler seit 1967 in der Seestadt vorfanden, war ein 33 Quadratmeter großer Raum zum Experimentieren, ohne dass sie einem Verkaufszwang ausgesetzt waren. Das Schaufenster des Ladenlokals verwandelte Blinky Palermo als Erster in ein markantes Zeichen. „Wir hatten kein Geld und luden Blinky Palermo ein. Wenn der mit einem Lkw voller Bilder vorgefahren wäre, hätten wir das gar nicht bezahlen können. Also haben wir ihm einen Eimer Farbe gekauft. Er malte dann den Fensterrahmen des Kabinetts auf die Wand. Das war Arte povera: arme Kunst, aber sexy.“ Das Markenzeichen des Kabinetts war geboren.
Blinky Palermo gehört zu der stattlichen Riege von international renommierten Künstlern, die Wesseler ausstellte - lange bevor sie ihren großen Durchbruch hatten. Gerhard Richter und Joseph Beuys gehören dazu ebenso wie Imi Knoebel, Sol LeWitt, Sigmar Polke, Ulrich Rückriem, Lawrence Weiner und Hanne Darboven. Namen wie Gregor Schneider, Andreas Slominski, Ceal Floyer, Silvia Bächli zeigen, dass sich das bis ins 21. Jahrhundert fortsetzte.
Dass Wesseler und seine Mitstreiter im Kunstverein immer wieder Werke von Künstlern kauften, die am Anfang ihrer Karriere standen, zahlte sich aus. So ist eine unverwechselbare Sammlung entstanden, die 2008 sogar ein eigenes Haus bekam: das Kunstmuseum neben dem Kino. „Alle meine Experten haben mir bestätigt, dass diese Sammlung keinen nationalen und internationalen Vergleich scheuen muss“, lobte der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann bei der Eröffnung.
Ohne den „Verrückten“ mit der Spürnase, 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, wäre das alles nicht möglich gewesen. Keine Frage, Wesseler, der einen Tag vor seinem 85. Geburtstag nach langer Krankheit gestorben ist, hat Bremerhaven fest auf der kunsthistorischen Karte verortet.

Vor allem das Kabinett für aktuelle Kunst war die Spielwiese von Jürgen Wesseler. Hier stellten die Großen der Kunstszene aus, lange bevor sie groß und berühmt wurden. Foto: Scheschonka