Ich glaube, wir sind viele. Sehr viele. Vielleicht ist es das, was tragfähig sein kann in bodenloser Zeit. Ein Anruf einer Freundin, die mir eine Szene auf der Straße erzählte - die so jeden Tag auf jeder Straße geschieht, auch mir alle paar Tage begegnet. Silvi, aufgewühlt, voller Selbstanklage: „Wir hier sind doch gesegnet, es geht uns trotz vieler Probleme so gut, warum brechen bloß so viele um mich rum komplett zusammen?“ Mit-Fühlen, Sorge, Ohnmacht - auch in einer geschützten Blase kann eine Seele wund sein. Aufgerissen. An der Haltestelle sieht sie eine Frau mittleren Alters aufs Handy starren und abrupt in Weinen ausbrechen. Sie hin, fragt, wie sie helfen kann? Aus der Frau bricht es heraus: „Ich kann einfach nicht mehr, immerzu grauenhafte Nachrichten, Bilder, es ist zu viel, Corona, Ukraine, Erdbeben, Gaskrise, jetzt Israel, Hamas, Gewalt in Deutschland, Hass im Internet, unser eigenes Long-Covid, Inflation, die Angst vor der Zukunft... ich lebe hier sicher, habe zu essen, zu heizen, aber ich zerbreche an all dem, ich komme aus dem Weinen nicht raus, kann nicht essen, schlafe schlecht.“ Silvi nickt, weint mit. Ich auch, als sie es mir erzählt. „Das ist absurd“, sagt Silvi, „auch wenn man Probleme vor der eigenen Tür anpackt, hilft, macht, Schönes sieht und weitergibt - welches Recht haben wir denn hier, am Leid anderer so zu zerschellen, dass man kaum noch atmen kann?“ Sie hört es überall. Ich auch. Ausblenden wollen, was sich nicht ausblenden lässt. Gestern traf ich eine 90-Jährige, bemerkenswert aufrecht, in sich ruhend, „glauben Sie mir“, sagt sie, „in all dem Leid, der furchtbaren Zeit - auch die wird vergehen, aus jedem Unten geht es irgendwann nach oben. Immer. Wir müssen bloß alle aufeinander achten.“ Ja.