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Malala: Von der Einsamkeit der Lichtgestalt
Malala Yousafzai war die jüngste Friedensnobelpreisträgerin aller Zeiten und eine der einflussreichsten Aktivistinnen weltweit. Nun erzählt sie von der Kehrseite des Ruhms - und ihrem Ausweg.

Malala Yousafzai, seit mehr als einem Jahrzehnt Aktivistin für die Bildung von Mädchen. (Archivbild)
Foto: Sean Kilpatrick
Als sie 15 war, schoss ihr im Schulbus ein Taliban in den Kopf. Mit 16 sprach sie, die diesen Mordanschlag in Pakistan wie durch ein Wunder überlebte, vor den Vereinten Nationen. Mit 17 erhielt sie als Jüngste in der Geschichte den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für Bildungschancen und gegen die Unterdrückung von Kindern. Die ganze Welt kennt sie als Malala. Aber wer kennt sie wirklich?
Davon schreibt Malala Yousafzai in ihrem neuen Buch „Finding My Way“. Es ist schon die zweite Autobiografie der erst 28 Jahre alten Frau, die bis jetzt scheinbar in doppelter Geschwindigkeit gelebt hat. Das erste Buch, „Ich bin Malala“, erzählt die Geschichte des Mädchens aus dem pakistanischen Swat-Tal, das mit ihrem Bildungshunger den Zorn der Islamisten erregt. Es beschreibt ihre Rettung in einer britischen Klinik, ihren Weg auf die Weltbühne. Jetzt zeigt Malala eine andere Seite: die Einsamkeit auf dem Sockel der überhöhten Lichtgestalt, die Verwirrung über eigene Schwächen, die Suche nach so etwas wie Seelenfrieden.
Über die prägende Zeit in der Schule und im College
„Ich teile meinen Weg durch die Schulzeit, die Jahre im College und die Zeit danach, weil es eine riesige Veränderung war“, sagt Malala im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. Mit 15 habe sie in einem künstlichen Koma gelegen, während andere sie zur Berühmtheit machten.
„Ich sollte eine Aktivistin sein, ein mutiges und unerschrockenes Mädchen, das sich für die Bildungschancen von Mädchen einsetzt.“ Dabei habe sie sich erst von dem Angriff erholen müssen, in einem neuen Land. „Mit der Zeit wurde mir klar, wenn du dich noch nicht einmal selbst kennst, dann kannst du dich nicht als Aktivistin definieren.“
Eine 15-Jährige mit Hörgerät
Nach der Schilderung im Buch war sie in der Schule in Birmingham vor allem ein einsamer Teenager, eine 15-Jährige mit Hörgerät und wegen eines gelähmten Gesichtsmuskels kaum fähig zu lächeln - das hing mit der Schussverletzung im Kopf zusammen, deren Folgen in unzähligen Operationen nach und nach gelindert wurden.
Sie jettete zu Konferenzen mit sehr viel älteren Menschen, aber Pizzaabende mit Freunden gab es nicht. „Ich hatte den Eindruck, meine Kindheit verloren zu haben“, sagt Malala. „Das College war ein Wendepunkt für mich.“ Ein Stück weiter weg von der Öffentlichkeit, aber auch von den strengen Vorgaben ihrer Mutter, die die junge Muslimin als Vorbild in Anstand und Tugend erzog.
Heimlich gekaufte Jeans
Im Online-Interview sitzt Malala entspannt im Poloshirt vor dem Bildschirm, sie hat ein Tuch um die Schultern, aber nicht um den Kopf. Im Buch beschreibt sie, dass auch das ein weiter Weg war: sich selbst auszusuchen, was sie anzieht. In der Schulzeit legte ihre Mutter ihr jeden Tag die traditionellen weiten Gewänder zurecht. Erst als sie 2017 zur Uni nach Oxford aufbrach, schmuggelte Malala heimlich gekaufte Jeans und eine Bomberjacke im Koffer mit.
Als sie dann tatsächlich in Jeans fotografiert und das Bild öffentlich wurde, entfachte das vor allem in Pakistan einen Sturm der Entrüstung. Ihre Eltern riefen an und ermahnten sie. „Aber ich habe meiner Mama gesagt, dass ich hier nicht auf einer Wallfahrt bin“, sagt die junge Frau. „Ich stehe hier für gar nichts. Ich bin nur Studentin.“
Bewacher an ihrer Seite
Ganz stimmte das wohl nie. Aus Sicherheitsgründen hatte sie auch in Oxford immer Bewacher an ihrer Seite. Bis heute maßen sich Menschen auf sozialen Netzwerken an, sie zu ermahnen, zu beschimpfen, zu bedrohen. Als sie 2021 in einem Interview der „Vogue“ die Frage aufwarf, „warum die Leute heiraten müssen“, überrollte sie eine Kampagne mit Tausenden Posts unter dem Hashtag #ShameOnMalala.
Immerhin bot ihr die Uni genügend Freiraum, um sich einigermaßen ungehemmt zu bewegen und Dinge auszuprobieren, auch Partys und Poker. Das Wichtigste sei ihr gewesen, Freundschaften zu schließen. „Sie sind da für dich, in guten und schlechten Zeiten“, sagt sie im Interview. „Ich schätze Freundschaft wirklich sehr, denn das hat alles für mich verändert.“
Geld für den Unterhalt ihrer Familie
Allerdings ist Malala eben nicht nur einfach eine junge Frau, die sich während des Studiums verliebte und 2021 dann auch heiratete. Sie bleibt Aktivistin. Selbst in der Zeit in Oxford reiste sie zu Konferenzen und Vorträgen für ihre Stiftung Malala Fund. Teils ging das zulasten ihres Studiums. Überraschend verrät sie, dass auch finanzielle Gründe dahintersteckten.
Für ihr erstes Buch erhielt sie Medienberichten zufolge zwar einen Vertrag über mehr als zwei Millionen Euro, der Friedensnobelpreis 2014 war mit einem Preisgeld von rund 880.000 Euro verbunden. Aber gemeinsam mit ihrem Vater gründete Malala 2013 die Stiftung, die heute ein Vermögen von mehr als 50 Millionen US-Dollar ausweist.
„Tatsache war, dass ich gar nicht mit dem Arbeiten aufhören konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte“, schreibt Malala. „Nachdem meine Familie sich in Birmingham niedergelassen hatte, wurde ich zu unserer einzigen Einkommensquelle.“ Ihr Vater erhielt als Lehrer keine Zulassung in Großbritannien, ihre Mutter sprach kein Englisch. „Meine Vorträge brachten das Geld ein, mit dem wir die Miete bezahlten, die Schulgebühren meiner Brüder, mein Abendessen vom Imbiss – einfach alles, was wir zum Leben brauchten.“
Rückschlag in Afghanistan
Mit Sicherheit ist ihr Einsatz für Bildungschancen trotzdem mehr als ein Beruf. Im Interview wird die junge Frau, die oft sanft, freundlich und abwägend spricht, bei dem Thema energisch. Empört ist sie vor allem über die lasche Antwort der Weltgemeinschaft auf die Rückkehr der Taliban in Afghanistan und deren drastische Auflagen für Mädchen. Selbst das Internet schränkten die Islamisten ein, um Mädchen von Online-Kursen abzuhalten, wie sie die Malala-Stiftung anbietet.
„Ich mache mir immer mehr Sorgen“, sagt die Bildungsaktivistin. „Aber was alles nur noch schlimmer macht, ist, wie einige Länder ihre Beziehungen mit den Taliban normalisieren. Für mich ist das Verrat. Das ist komplett falsch. Ich hoffe, dass die Politiker dieser Welt den afghanischen Frauen und Mädchen zuhören. Derzeit hören sie nur den Taliban zu.“
Die Welt macht keine Pause
Der Rückschlag macht sie sichtbar wütend. „Das ist mehr als Geschlechterdiskriminierung und Verfolgung. Das ist tatsächlich systematische Unterdrückung und sollte als eine Art Apartheid wegen des Geschlechts benannt werden.“
Aber lässt sie sich davon bremsen? „Die Welt gibt uns keine Zeit aufzuhören und zu sagen, na ja, vielleicht bewegen wir uns in die richtige Richtung, dann können wir mal Pause machen“, sagt Malala. „Nein, wir haben keine Zeit. Tatsächlich ist es nur ein Hinweis, dass wir doppelt so hart arbeiten müssen.“

Bei der Oscar-Verleihung 2023 zog sie Blicke auf sich, aber den Filmpreis gewannen andere. (Archivbild)
Foto: Jordan Strauss

Malala ist weiter für ihre eigene Stiftung weltweit unterwegs. (Archivbild)
Foto: Seth Wenig

Malala erhielt 2014 den Friedensnobelpreis. (Archivbild)
Foto: Cornelius Poppe